In der Zwickmühle
„Ich bin hin- und hergerissen“, erzählt eine Teilnehmerin der Supervision, „ich finde einfach keinen Ausweg. Wenn ich bei diesen Kopfschmerzen nicht zu Hause bleibe, dann werden sie noch schlimmer und dauern länger. Wenn ich aber nicht in den Dienst gehe, dann bleibt die ganze Arbeit an den Kollegen hängen. Aber die schaffen sie auch nicht mehr und dann trifft es die Patienten“. Im Verlaufe des weiteren Gesprächs stellt sich heraus, dass das Team unter der Arbeitslast zu zerbrechen droht. Der früher freundliche Umgangston hat sich merklich verschärft. Auf einmal wird auf Zuständigkeiten gepocht, die zuvor keine Rolle spielten. Eine neue Unterscheidung wird gemacht, zwischen den „low performern“, nicht belastbar, häufig krank, unengagiert, verantwortungslos, und den „high performern“, die alles aufzufangen und zu tragen versuchen, die den Betrieb am Laufen halten.
Arbeitswelt im Spiegel von Coaching und Supervision
So höre ich es in den letzten Monaten vermehrt in Coaching und Supervision. Wundern sollte ich mich darüber nicht: täglich lese und höre ich vom Fachkräftemangel, als Folge des demographischen Wandels und von Corona (https://www.deutschlandfunk.de/arbeitsmarkt-fachkraeftemangel-zuwanderung-arbeitslosigkeit-deutschland-100.html) sowie von hohen Krankenständen. Das gesamte Jahr 2022 über wurde immer wieder von „Rekordhochs“ bei den Erkrankungen berichtet (9,5 Millionen Menschen in Deutschland litten laut Robert-Koch-Institut Anfang Dezember an Atemwegserkrankungen, Grippe oder Corona, https://www.focus.de/gesundheit/news/weniger-corona-faelle-rki-viele-klinikeinweisungen-wegen-atemwegsinfektionen_id_180441275.html). Dabei trägt das eine (der Fachkräftemangel) zum Anderen (erhöhte Arbeitsbelastung, Erkrankungen, verstärkte Fluktuation) bei (https://www.welt.de/wirtschaft/article243065967/Fachkraeftemangel-macht-die-Beschaeftigten-zunehmend-krank.html?xing_share=news).
Gerade engagierte Mitarbeitende geraten dadurch in eine Zwickmühle bzw. in ein Dilemma. Letzteres kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus „di“ (zweifach) und „lemma“ (Annahme, Prämisse) zusammen. Es wird als „Entscheidungszwang zwischen zwei Übeln“ beschrieben, als „Wahl zwischen Pest und Cholera“ (https://www.dwds.de/wb/Dilemma).
Was macht nun ein Dilemma aus?
- Am Anfang steht ein Widerspruch – zwischen Qualität und Quantität, Menschen- und Gewinnorientierung, den eigenen begrenzten Kräften und der Masse an zu erledigenden Aufgaben: „Potentiell grenzenlosen Anforderungen stehen begrenzte Ressourcen gegenüber“*. Dieser Widerspruch ist in Organisationen angelegt und kann dort eine „individuelle Verantwortungszuschreibung für eine unlösbare Aufgabe werden“*.
- Weiter „braucht es neben dem Widerspruch zusätzlich die innere und/oder äußere Forderung, beiden Polen des Dilemmas gleichzeitig gerecht zu werden. Erst dieser Anspruch macht aus einem Entscheidungskonflikt ein Dilemma. Gehe rechts und links gleichzeitig – so lautet der innere und oft auch äußere Imperativ“*.
- Beide Anforderungen bedingen sich wechselseitig: eine Entscheidung für rechts erhöht die Notwendigkeit, stattdessen links zu gehen – und umgekehrt. Wen sich die Supervisandin aus dem obigen Beispiel also dafür entscheidet, ihre Kopfschmerzen auszukurieren, verschärft dies die Lage am Arbeitsplatz – in Form schlechten Gewissens, (un)ausgesprochener Vorwürfe, erhöhten Drucks. Wenn sie stattdessen zur Arbeit geht, geschieht dies auf Kosten ihrer Gesundheit, der sie früher oder später „Tribut zollen“ muss.
In einer solchen Situation haben Menschen „das Gefühl, sich in einer unlösbaren Situation zu befinden, für die es jedoch unbedingt eine Lösung braucht“*.
„Lösungen“ bestehen dann häufig in:
- Pendeln: beim aufreibenden Zickzackkurs zwischen links und rechts wird „der Anspruch, Selbst- und Fremderwartungen um jeden Preis erfüllen zu wollen“, gewahrt. In diesem Sinne ist das Dilemma eine Lösung, die freilich inzwischen selbst zu einem Problem geworden ist…
- Personalisierung: die kollektive Überforderung wird als individuelles Versagen erklärt. Das dient der eigenen Entlastung und hilft, den offensichtlich hilfreichen Glauben an die prinzipielle Lösbarkeit des Problems aufrechtzuerhalten
- Polarisierung: Kämpfe um „(Nicht-)Zuständigkeiten“, als läge „die (Er-)Lösung in maximaler Arbeitsteilung“, „kommunikative Verknappung“ und „interaktionale Abwärtsspiralen“ (wie im Beispiel oben). Dazu gehören auch die sogenannten Schachmatt-Sätze: „Sie müssen halt Prioritäten setzen/auch mal was abgeben/sich besser organisieren“*
Günstiger ist der Erwerb von Dilemmakompetenzen* **
- die Dilemmasituation wahrnehmen und verstehen
Worin liegen die zentralen Widersprüche und Unvereinbarkeiten meines Aufgabenfeldes? Welche ausgesprochenen und unausgesprochenen Aufträge gibt es? Welche kommen von außen? Was sind (auch) Aufträge, die ich mir selbst erteile? Mit diesen Überlegungen werde ich zugleich Beobachterin meiner selbst und meiner Organisation – und gewinne so Abstand
- die Un-Lösbarkeit des Dilemmas akzeptieren und aushalten
Das Dilemma ist unter den bei mir bzw. in der Organisation herrschenden Prämissen (Grund-Annahmen, Voraussetzungen) nicht zu lösen. Ich kann aber meine Haltung verändern und es akzeptieren: Meine Arbeit besteht im Umgang mit Dilemmata, d.h., Entscheidungen zu treffen, die mir und anderen als Orientierung dienen
- auf Zusammenhalt achten, solidarisieren statt spalten
Wenn ich weiß, dass auch Andere von den in der Organisation angelegten Widersprüchen betroffen sind (möglicherweise aber anders damit umgehen), muss ich keine persönlichen Schuldzuweisungen treffen. Ich kann deutlich machen, dass „alle in einem Boot sitzen“ und dass es bessere Bewältigungsstrategien gibt als „rette sich, wer kann“. Dazu versuche ich, im Gespräch zu bleiben und meinerseits wertschätzend zu kommunizieren
- persönlich verantwortete Entscheidungen treffen
Es gibt im Dilemma keine „richtige“ Entscheidung. Also kann ich nur versuchen, eine „persönlich verantwortete“ Entscheidung zu treffen*. „Im Dilemma gibt es keine Lösung – nur einen mehr oder weniger bewusst eingenommenen Standpunkt“*. Den zu bestimmen, helfen die eigenen Gefühle und Werte
- Gefühle und Körpersignale wahrnehmen und nutzen
Sie enthalten „richtungsgebende“ Informationen über meine Bedürfnisse und Werte. Wenn ich mich selbst beobachte und sie wahrnehme, kann ich sie als Kompass für ein für mich stimmiges Vorgehen nutzen. „Es ist die innere Gewissheit, sich selbst oder zumindest wesentlichen Seiten in sich gerecht zu werden, die es möglich macht, die mit der Positionierung verbundenen Preise und Risiken zu tragen“*
- der eigenen Prämissen und Werte bewusst werden
„Eine Zwickmühle ist ein Geflecht von Konstruktionen, die Ausweglosigkeit zur Folge haben“***.
Das Dilemma hat also (auch) mit mir zu tun. Was sind meine Konstruktionen? Was meine Prämissen? Welche sind für mich wichtiger als andere? Welche kann ich – probehalber – hinterfragen und – vorübergehend – hintanstellen? Es gibt also ein „Moment der Wahl“, eine „Chance auf Selbstbestimmung in einer stark fremdbestimmten Situation“* – zugunsten dessen, was mir besonders wertvoll ist: „was für ein Mensch will ich sein“*?
- eigene Position bestimmen und vertreten
Welchen Rang weise ich nun meinen Gefühlen und Werten zu? Wofür will ich auf dieser Basis eintreten, ja, mich „bekennen“*? Welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen?
- mit dem Preis umgehen
„Wo prinzipielle Unentscheidbarkeit herrscht, ist Eindeutigkeit Utopie“*: meine Entscheidungen im Dilemma sind angreifbar. Und die Angriffe kommen nicht nur von außen! Daher ist es wichtig, mit sich selbst barmherzig zu sein – also achtsam, selbstfreundlich, verbunden zu bleiben
- Verantwortung klären und adressieren
Ich, Du, wir sind mit-verantwortlich und können einen positiven Beitrag leisten. Dazu gehört, diejenigen, die qua Position Verantwortungsträger sind, auf nicht oder nur zu einem sehr hohen Preis umsetzbare Entscheidungen, Anordnungen und Aufträge „beharrlich konstruktiv“* hinzuweisen
Habe ich Ihr Interesse am Dilemma und an Dilemmakompetenzen für Sie oder für Ihr Team geweckt?
Coaching und Supervision können weiterhelfen!
(https://www.richtung-ziel.de/1172-2/)
*Julia Zwack, Ulrike Bossmann, Wege aus beruflichen Zwickmühlen. Navigieren im Dilemma, 2017
** J. Schweitzer, M. Born u.a., Dilemmaerleben und Dilemmakompetenz mittlerer Führungskräfte im Krankenhaus, in: P. Angerer, H. Gündel u.a. (Hg.), Arbeiten im Gesundheitswesen. Psychosoziale Arbeitsbedingungen, 2019, S. 290-300
*** Angelika Glöckner, zitiert nach Zwack/Bossmann
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